«Wir sind weit davon entfernt, ansteckende Krankheiten im Griff zu haben»

Eine Virologin steht uns Rede und Antwort zu Fragen rund um ihr Fachgebiet. Was hat die Pandemie verändert? Müssen wir in Zukunft häufiger mit ansteckenden Krankheiten rechnen? Erwartet uns eine vierte Welle?

28.06.2021

Barbara Schwede

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Was fasziniert Sie an Viren?

Mich haben Infektionskrankheiten schon immer interessiert – vor allem die Frage, wie man in der Diagnostik herausfindet, woran ein:e Patient:in leidet. Die Person kommt mit Symptomen in die Sprechstunde – der Grund dafür können Bakterien, Viren, Pilze oder vieles andere sein. In der Differenzialdiagnostik beginnt nun die Suche. Was könnte es sein? Das ist immer wieder ein spannender Prozess. Wo beginnen wir mit der Suche? Welche Proben soll man nehmen? Wie interpretiert man die Resultate, vor allem, wenn sie im Grenzbereich liegen und nicht eindeutig sind? Hier unterstützen wir Kolleg:innen aus anderen Fachbereichen.

Noch komplexer wird es oft bei Viren, die im Körper bleiben – wie zum Beispiel bei Herpesviren. Wenn man sie findet, stellt sich oft die Frage, ob sie tatsächlich die Ursache einer Krankheit sind, oder ob man weitersuchen muss.

Was hat die Pandemie mit ihrem Fachbereich gemacht? Und was mit ihrem Team im Spital?

Die grösste Veränderung für mein Team und mich war das Arbeitspensum im ersten Pandemiejahr – das war eine sehr grosse Herausforderung. Wir haben Anfang 2020 von der Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus in China gehört, dann plötzlich tauchten die ersten Fälle in Italien auf. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine kommerziellen Tests. In dieser Phase waren wir in einem regen Austausch mit der Forschung, um die Diagnostik zu ermöglichen. Im Anschluss war die Sicherheit des Laborpersonals ein zentrales Thema: Welche Schutzmassnahmen brauchen wir? Wie gehen wir vor? Wie packen wir die Proben aus? Was müssen wir beim Umgang damit beachten? Wir haben den Ablauf im Labor komplett neu organisiert. Dazu kam die Zusammenarbeit mit den Behörden zur Meldung der positiven Fälle an das Contact Tracing. Allein die Tatsache, dass wir von allen getesteten Personen eine Telefonnummer brauchten, war mit viel organisatorischem Aufwand verbunden.

Die nächste Herausforderung war die Anzahl Proben, die wir bekamen, als dann kommerzielle Tests zur Verfügung standen. Das fühlte sich an wie eine Lawine! Zwar war zu diesem Zeitpunkt alles schon besser organisiert, aber im November und Dezember haben wir rund um die Uhr gearbeitet, wochenlang. Nachts haben wir uns nur um Notfälle gekümmert, von 7 Uhr bis 23 Uhr waren wir jedoch durchgehend beschäftigt. Dafür funktionierte die Zusammenarbeit im Team hervorragend! Man hat sich gegenseitig geholfen, wo immer es ging. Insbesondere das technische Personal hat Aussergewöhnliches geleistet.

Für mich als Akademikerin gab es ein weiteres Thema: Wir waren mit einer unglaublichen Fülle an neuen Studien und Forschungsarbeiten konfrontiert. Normalerweise schicken die Autor:innen ihre Texte zunächst an eine Zeitschrift, diese schickt sie zur Peer Review weiter, bevor sie zur Veröffentlichung angenommen oder abgelehnt werden. Das dauert in der Regel alles lange und schlussendlich wird nur das Wichtige publiziert. Um die Resultate der Covid-Forschung schnell für alle Wissenschaftler zugänglich zu machen, hat es sich eingebürgert, Studien ohne vorherige Peer Review und vor der Annahme oder Ablehnung durch eine Zeitschrift frei online zu veröffentlichen. Daher gab es einerseits unglaublich viel zu lesen und andererseits musste man alles sehr viel kritischer hinterfragen. Eine Mammutaufgabe!

Lief die Pandemie so ab, wie sie es erwartet hatten oder gab es Überraschungen?

Es gab ständig Überraschungen! Uns hat zum Beispiel die Heftigkeit der zweiten Welle überrascht, denn wir dachten zu diesem Zeitpunkt, die Massnahmen müssten besser greifen. Daher will ich auch bezüglich einer möglichen vierten Welle gar keine Vorhersagen mehr machen.

Interessant war auch, dass es viel weniger andere Viruserkrankungen gab, als in früheren Jahren. Wir haben alle erwartet, dass die jährliche Influenza-Epidemie zum gleichen Zeitpunkt kommt wie die nächste Covid-Welle. Weil die Symptome von Influenza und Covid sich überschneiden, kamen bald Tests auf den Markt, die beide Erkrankungen schnell, zuverlässig und gleichzeitig diagnostizieren konnten. Wir waren sehr gut vorbereitet – aber die Influenza kam nicht. Und nicht nur die Influenza, sondern auch der RSV, der jeden Winter respiratorische Infektionen bei Säuglingen auslöst, oder die Enteroviren, die wir immer im Sommer nachweisen, sind während der Pandemie so gut wie nicht aufgetaucht. Seit ich als Ärztin arbeite, habe ich das noch nie erlebt: Influenza, RSV und Enteroviren sind bis jetzt jedes Jahr pünktlich erschienen. Wir gehen aktuell davon aus, dass die Massnahmen, wie das Tragen von Masken und die Handhygiene, eben auch diese Viren eingedämmt haben.

Wie ging es Ihnen mit dem immensen Interesse der Öffentlichkeit an Ihren Fachthemen?

Sehr lustig fand ich die Idee, es sollte doch Panini-Bilder von Virologen geben

Für mich ist der grösste Unterschied wohl, dass ich früher immer erklären musste, was ich in meinem Beruf mache. Jetzt hat die Allgemeinheit eine Vorstellung davon und ich spüre grossen Respekt. Man wird im Bekanntenkreis zu einer Art Kompass für alle möglichen Fragen. Trotzdem gibt es weiterhin sehr viele Missverständnisse – zum Beispiel traten in den Fernsehdebatten plötzlich viele Wissenschaftler:innen und Mediziner:innen auf und wurden alle als Virolog:innenen bezeichnet. Dabei gibt es gar keine einheitliche Ausbildung. Manche sind reine Forscher, die jahrelang eine oder wenige Virus-Gruppen studieren. Bei mir ist das anders – in der Diagnostik beschäftigt man sich mit allen Viren, die den Menschen krank machen. Dann gibt es die Epidemiolog:innen, die sich mit der Ausbreitung und Eindämmung von Krankheiten in den Spitälern oder in der Bevölkerung auseinandersetzen. Und die Infektiolog:innen – sie kümmern sich vor allem um die Therapie von Infektionskrankheiten und um Impfungen. Ausserdem gibt es die Immunolog:innen, die Expert:innen für die Immunantwort des Körpers sind. Wir sind alle miteinander in Kontakt und tauschen uns aus, aber es handelt sich um verschiedene wissenschaftliche Gebiete.

Müssen wir uns in Zukunft öfter auf solch ansteckende Krankheiten einstellen?

Das ist eine schwierige Frage, denn ansteckende Krankheiten gab es schon immer. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass man vor Jahren dachte, die Infektionskrankheiten besiegt zu haben: Die meisten Viren seien harmlos und die Bakterien hätte man mit Antibiotika sozusagen im Griff. Spätestens mit dem Auftreten von HIV wurde klar, dass wir davon weit entfernt sind: Einerseits schwächen neue immunsuppressive Therapien bei Transplantationen, Krebs und Autoimmunerkrankungen das Immunsystem und andererseits entwickeln Bakterien und Viren immer mehr Resistenzen gegen Antibiotika und antivirale Medikamente. Dazu kommt, dass wir viel mehr reisen als früher und sich Krankheiten schneller ausbreiten können. Und Viren und Bakterien können von Tieren auf Menschen überspringen – HIV ist übrigens auch ein Virus aus dieser Reihe. Genauso wie im Jahr 2009 die H1N1 – bekannt als Schweinegrippe.

Daher lässt sich nicht vorhersagen, wann es wieder zu einer Pandemie kommt, aber irgendwann wird es wieder passieren.

Die COVID-Infektionszahlen sind in den letzten Wochen stetig gesunken, ohne dass es – wie von vielen gefordert – einen zweiten harten Lockdown gab. Hat die Bevölkerung die Massnahmen besser mitgetragen als befürchtet?

Meine persönliche Meinung ist: Die Massnahmen haben geholfen, aber vor allem auch die zunehmende Immunität durch Krankheit und Impfungen. Ausserdem überträgt sich das Virus draussen und bei Hitze nicht so leicht – der Sommer kann also ebenfalls eine grosse Rolle spielen. Wir müssen abwarten, was im Herbst passiert. Ich hoffe, dass die Immunität stark genug sein wird, um eine vierte Welle zu verhindern. Sicher sein können wir nicht.

Was lernen wir aus dieser Pandemie für die Zukunft?

Wir sind nicht alleine – weder in der Gesellschaft, noch in der Wissenschaft. Wir müssen uns gemeinsam schützen und zusammenarbeiten. Auch die Schweiz ist nicht alleine. Wir sind verbunden mit dem Rest der Welt und daher kann es auch nur eine globale Lösung geben. Gemeinsam müssen wir sicherstellen, dass alle Länder möglichst schnell zu dieser Impfung kommen.

In der reichen westlichen Welt haben wir uns lange in falscher Sicherheit gewiegt. Schon ganz zu Beginn der Pandemie habe ich beim Einkaufen eine Maske getragen – wir hatten noch Masken zuhause, die wir im 2009 gemäss BAG Empfehlung an die gesamte Bevölkerung als Vorbereitung für eine mögliche Influenza-Pandemie gekauft hatten. Damals war man gut vorbereitet, aber das befürchtete Ereignis trat nicht ein. Nachher dachte man: Es ist einmal nicht passiert, dann wird es auch in Zukunft nicht passieren – das meine ich mit falscher Sicherheit. Fazit ist: Wir brauchen bessere Vorbereitung, mehr Forschung und eine bessere globale Zusammenarbeit.

Wie sieht Ihre Arbeit aus, wenn gerade nicht Pandemie ist?

Die Arbeit in der Diagnostik ist vielfältig und sie gefällt mir sehr gut. Man setzt sich mit interessanten Viren auseinander – es gibt ja eine ganze Menge davon! Ausserdem beschäftige ich mich permanent mit neuen Diagnose-Methoden, die verschiedene Unternehmen auf den Markt bringen oder die wir selber entwickeln. Wir entscheiden, was wir im Spital brauchen und welche neuen Verfahren sinnvoll und hilfreich sind. Auch das Studium neuer Forschungsliteratur gehört zu meiner Arbeit – ausserhalb einer Pandemie habe ich dafür genügend Zeit. Im Labor kann ich mich in normalen Zeiten besser um das Personal kümmern, Mitarbeitende schulen und mich stärker um die Kooperation mit Kolleg:innen und Forschenden aus anderen Fachbereichen kümmern. Während der Pandemie rückten viele andere Projekte in den Hintergrund, für die nun hoffentlich bald wieder Zeit sein wird.

Worauf freuen Sie sich, wenn die Pandemie vorbei sein wird?

Das ist bei mir sicher ähnlich wie bei den meisten anderen Menschen auch: wieder in Ruhe und entspannt mit Freunden ins Restaurant gehen, miteinander eng am Tisch sitzen und Fondue essen. Kino, Konzerte und Events besuchen… Und, dass ich wieder mehr Freizeit habe. Geniessen wir einfach den Sommer!

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