«Die Frage ist: Wie lange hält der ‘Schnuuf’?»

Im Gespräch mit einer diplomierten Intensiv-Pflegefachfrau und einer angehenden Intensiv-Fachärztin: Wir wollten von den beiden wissen, wie sich ihr Alltag seit Corona verändert hat und ob beide Berufsgruppen das ähnlich erleben.

28.12.2020

Eveline Tissot

2 Kommentar(e)

Was hat Corona mit eurem Alltag gemacht?
Ärztin: Dadurch, dass wir wieder im Zwei- Schicht-System arbeiten, dauert ein Arbeitstag selten weniger als 14 Arbeitsstunden. An Arbeitstagen besteht das Leben also ausschliesslich aus schlafen, arbeiten, essen, schlafen. Für Soziales oder Ausgleich bleibt da wenig Raum.

Pflegefachfrau: Privat hat sich wenig verändert, ausser dass sich Freunde und Bekannte stärker für meine Arbeit interessieren. Bei der Arbeit sollte die Frage allerdings eher lauten, was sich nicht verändert hat: Wir müssen permanent flexibel sein, erhalten den Dienstplan immer nur wenige Tage im Voraus und jeden Tag kann sich alles wieder ändern. Manchmal steht man vor Bergen von Aufgaben und hat viel zu wenig ausgebildete Fachkräfte vor Ort, manchmal kann man aber auch relativ normal arbeiten. Es gibt so viele unbekannte Komponenten – Planung ist dadurch fast unmöglich.


Wie geht es euch dabei?
Pflegefachfrau: Es ist sehr ermüdend so zu arbeiten. Vergangene Woche hatte ich die Schichtleitung – dabei bekomme ich die Stimmung im Team besonders gut mit. Viele fühlen sich dauerhaft überlastet, der Optimismus scheint verschwunden. Es ist ein ewiges Hin und Her, nichts ist konstant, alles ändert sich laufend. Das laugt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus.

Ärztin: Eine Zeitlang kann man schon so arbeiten, aber die Stimmung ist jetzt anders als in der ersten Welle. Damals waren alle von den Bildern aus Italien erschüttert und bereit, Vollgas zu geben. Jetzt macht sich grosse Corona-Müdigkeit breit, man möchte zurück in sein normales Leben. Die Frage ist: Wie lange hält der ‘’Schnuuf’’? Auf Dauer kann das einfach kein Mensch leisten.


Um mehr Kapazitäten auf den Intensivstationen bereitstellen zu können, braucht es vor allem mehr Personal. Wie sieht damit aus?
Ärztin: Das stimmt. In der ersten Welle waren Material und Maschinen die limitierenden Faktoren. Das meiste konnten wir in der Zwischenzeit organisieren. Aktuell limitieren uns tatsächlich die personellen Ressourcen. In dieser Überbelastung zu arbeiten, wie wir das gerade tun, ist für ein paar wenige Wochen möglich, aber nicht auf Dauer. Auch wir Gesundheitsfachpersonen können krank werden, können COVID-bedingt ausfallen. Hier sehe ich das grösste Problem.

Pflegefachfrau: Wenn wir von Aufstockung reden, dann geht man davon aus, dass mehr ausgebildetes Personal zur Verfügung steht. Das stimmt so aber nicht ganz. Aktuell erhalten wir zwar viel Hilfe durch ausgebildete Anästhesie-Pflegefachleute, Lernende und anderes Gesundheitspersonal, aber das ist nicht das gleiche wie Intensiv-Pflegepersonal. Einerseits haben die meisten von ihnen keine oder wenig Erfahrung mit Intensivpatient*innen und müssen angeleitet und kontrolliert werden. Das braucht viel Zeit von uns, die dann wieder nicht bei den Patient*innen zur Verfügung steht. Auf der anderen Seite werden diese Ersatzpersonen meist sehr kurzfristig eingesetzt – beispielsweise, wenn jemand aus unserem Team krank wird. Das heisst, sie kennen weder unser Pflegesystem noch die Intensivstation und sind wenig vertraut mit intensivpflichtigen Patienten. Normalerweise betreut eine Intensivpflegefachperson pro Schicht eine*n bis maximal zwei Patient*innen, je nach Pflegebedürftigkeit. Aktuell betreuen wir zusammen mit den Aushilfskräften drei bis vier Patient*innen. Dadurch sind Arbeitslast und Verantwortung bei den ausgebildeten Intensivpflegefachkräften enorm.


Werdet ihr den Patient*innen gerecht?
Ärztin: Von der ärztlichen Seite können wir aktuell noch individuell auf den jeweiligen Patienten abgestimmte Medizin gewährleisten – daher würde ich die Frage mit «Ja» beantworten. Aber man ist dünnhäutiger und reagiert in komplizierten Situationen weniger gelassen.

Pflegefachfrau: Von Pflegeseite sieht die Situation anders aus. Durch die oben beschriebene Situation ­– weil wir immer wieder neue Kolleg*innen einführen und anleiten müssen – bleibt viel weniger Zeit für unsere Aufgaben direkt am Patienten. Die pflegerischen Aufgaben kommen zu kurz. Dabei geht es meist nicht ums nackte Überleben, aber um die Erleichterung der Rehabilitation oder darum, Folgeschäden zu vermeiden. Wenn man permanent am Feuerlöschen ist, werden Patient*innen zum Beispiel weniger häufig umgelagert und entwickeln schneller Druckstellen. Oder die Zeit für Mundpflege fehlt, wodurch schneller Infekte entstehen können. Oder man hat nicht genügend Zeit fürs Mobilisieren der Patient*innen – was für das Aufrechterhalten der Muskelmasse wichtig wäre. Vieles kommt zu kurz und das ist auf die Dauer sehr unbefriedigend. Damit hadern viele meiner Berufskolleg*innen.


Abgesehen von den ausgeprägten Schutzmassnahmen: Gibt es andere Aspekte, die man bei COVID-19-Patienten*innen besonders beachten muss?
Pflegefachfrau: Es wird unterschätzt, was COVID mit den Patienten*innen macht. Das Komplizierte ist gar nicht immer die akute Situation. Die Kranken sind oft lange ans Beatmungsgerät gebunden und verlieren viel Muskelmasse. Für die gesundheitliche Zukunft des Patienten wäre es sehr wichtig, dass man Zeit hätte, sich diesen Umständen zu widmen. Die haben wir aber aktuell nicht.


Welche Gedanken habt ihr in Bezug auf die nächsten Monate?
Ärztin: Es könnten noch mehr Leute unnötig sterben, wenn wir – je nach Situation – die Ressourcen ausgeschöpft haben. Das wollen wir unbedingt verhindern. Aber auch für uns im Gesundheitswesen ist die Situation belastend. Das System wird so nicht auf Dauer funktionieren und ich hoffe, dass es nicht zu viele negative, auch gesundheitliche Folgen für das Gesundheitspersonal haben wird. Man muss sich in diesem Kontext auch fragen, was man dem Gesundheitspersonal auf die Dauer zumuten darf und wie wir trotzdem möglichst vielen Patient*innen gerecht werden können.


Wie ist die aktuelle Situation für die Angehörigen der COVID-19- Patient*innen?
Pflegefachfrau: Wir von der Pflegeseite sind direkt am Patientenbett. Damit bekommen wir auch die Stimmungen innerhalb von Familien immer direkt mit – die Ängste, den Stress und auch die Aggressionen entladen sich oft an uns. Gerne hätte ich dann mehr Zeit, um mich beispielsweise um Trauernde kümmern zu können. Was halt im Moment ressourcenbedingt auch schwierig ist. Insgesamt habe ich hingegen den Eindruck, die direkt Betroffenen können die Situation und den Ressourcenmangel gut verstehen und einordnen.

Ärztin: Ich erlebe die Angehörten als sehr dankbar. Ich habe den Eindruck, dass Angehörige die Corona-Massnahmen durch den direkten Bezug viel radikaler umsetzen und insgesamt sehr verständnisvoll mit den Rationierungsmassnahmen umgehen. Die Leute wollen nicht zur Last fallen und beklagen sich beispielsweise nicht, dass jeder Patient pro Tag nur von einer Person eine Stunde lang besucht werden darf. Sie haben Einblick in unsere Lage und sehen, dass mehr einfach nicht möglich ist.


Fühlt ihr euch von der Politik verstanden?
Pflegefachfrau: (lacht) Um ehrlich zu sein: Nicht wirklich! Täglich bekommen wir SMS, ob wir nicht noch in einer weiteren Schicht einspringen könnten. Viele Kolleg*innen haben ganz selbstverständlich ihre Stellenprozente aufgestockt und engagieren sich pausenlos. In der ersten Welle haben wir von einem Politiker je drei Ostereier für unseren Einsatz bekommen. Dann gibt es noch die Geschichte mit der Anerkennung in Form von Kugelschreibern, die ihr sicher kennt. Die ganze Schweiz hat geklatscht… Wir arbeiten zurzeit so oft am Limit, aber richtig anerkannt – auch im finanziellen Sinn ­– werden wir nicht. Das belastet zusätzlich.

Ärztin: Auf lange Sicht frage ich mich: Wie verändert all das unsere Gesellschaft? Wo wird man sparen? Welche personellen Konsequenzen wird die Pandemie gerade im Spital haben? Da fehlen uns schon noch die Antworten aus der Politik…

Kommentare

  • Felix Amann 04.01.2021, 09:14 30

    Ich bin kein Spitalpersonal. Bin aber über eure Site gestolpert und habe die Gespräche mit selbigen im Blog «Ärztealltag» gelesen. Es sind eindrückliche und zum Nachdenken anregende Berichte. Ich möchte allen Danken für ihren grandiosen Einsatz und die Arbeit, die geleistet wird. Wie wohl alle hoffe ich, dass das Thema Corona bald einmal ad acta gelegt werden kann. Ich werde dann aber nicht vergessen, was Pfleger*innen und Ärzt*innen geleistet haben. Meine Stimmer für bessere Arbeitsbedingungen ist euch gewiss.

    • Eveline Tissot 05.01.2021, 17:27 00

      Lieber Herr Amann, besten Dank für Ihr Feedback zum Text und unserer Arbeitssituation. Es ist sehr motivierend, auf Ihre Unterstützung zählen zu dürfen. Wir hoffen alle, dass bezüglich Corona bald einmal Entspannung kommt und sowohl soziale Kontakte, wie andere Themen wieder mehr Raum gewinnen dürfen.

Beteiligen Sie sich an der Diskussion