Mein Auftrag ist eine politische Vertretung mit Durchsetzungskraft
Als Präsidentin der FMH ist Yvonne Gilli ab Februar die oberste Ärztin der Schweiz. Sie ist die erste Frau an der Spitze der über 100-jährigen Organisation. Gilli ist Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin und ist in Wil SG als Hausärztin tätig. Zwischen 2007 und 2015 war sie Nationalrätin der Grünen. Frau Gilli stand uns zu einem Antrittsinterview zur Verfügung.
Yvonne Gilli, welche Schwerpunkte möchten Sie in der FMH in den kommenden Jahren setzen?
Als Präsidentin der FMH bin ich den Mitgliedorganisationen verpflichtet – wie zum Beispiel dem VSAO. In den Jahren 2019 und 2020 hat der Verband unter Mitgliedern und Mitgliedsorganisationen, und auch bei Entscheidungsträgern der Politik eine repräsentative Umfrage durchgeführt. Wir wollten herausfinden, welches die brennenden Themen sind. Daraus leiten wir nun die Strategie für die kommenden vier Jahre ab. Der Auftrag ist eine starke politische Vertretung mit Durchsetzungskraft und Gehör für die Ärzteschaft in Öffentlichkeit und Politik. Damit das möglich ist, brauchen wir eine One-Voice-Strategie und einen klaren Fokus auf die ärztlichen Kernthemen – ein aktives Engagement für die Arbeitsbedingungen, für die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben und für klare Weiterbildungskonzepte. Weitere zentrale Themen sind Kaderpositionen für Ärztinnen oder dass die Arbeitszeitregelungen der Arbeitgeber verbindlich sind.
All diese Themen haben sich durch die Pandemie verschärft, nicht?
Krisen polarisieren, das ist auch in diesem Fall so. Positiv gesehen bedeutet dies, dass sich Stärken und Schwächen klarer zeigen. Als kleines Land haben wir gezeigt, dass wir fähig sind, uns schnell neuen Gegebenheiten anzupassen – diese Dynamik sollten wir nun zum Beispiel auch für förderliche Berufsbedingungen nutzen und Veränderungen rasch möglich machen.
Mit Ihnen und Monika Brodmann sind nun zwei Frauen in wichtigen Präsidien. Wie können Sie diese Chance nutzen, um Frauen in der Medizin besser in den Blick zu nehmen und um neue Akzente zu setzen?
Zuerst möchte ich betonen, dass der VSAO zu diesen beiden Frauenpräsidien wesentlich beigetragen hat. Durch diese Wahlen wurden gezeigt, dass das, was längst überfällig war, jetzt tatsächlich möglich ist. Es ist ein starkes Zeichen gegen aussen. Ich denke, sowohl Monika Brodmann wie auch ich werden in Frauenthemen eine starke Präsenz zeigen: Schwerpunkte wie Frauen in Kaderpositionen oder die Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf gilt es immer wieder zu benennen und zu zeigen, dass wir diese Herausforderungen angehen.
Es freut mich natürlich sehr, beim SIWF mit einer Frau zusammenzuarbeiten. Auch, weil wir beide neu sind und keine Lasten aus der Vergangenheit zu bewältigen haben. Neue Wege sind möglich. Und das Potenzial, näher zusammenzurücken. Denn was uns stark macht gegenüber der Politik ist unsere Grösse. Dadurch wird Mitgestaltung möglich! Alle, die uns schaden wollen, versuchen uns zu spalten oder zu trennen – denn Fragmentierung kostet Kraft.
Wie kann der VSAO Sie unterstützen, Ihre Schwerpunkte rascher und breiter umzusetzen?
Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit braucht es die gegenseitige Bereitschaft, den Kontakt stetig zu pflegen. Wir müssen uns kennenlernen und zusammenraufen, gemeinsame Ziele setzen, diese mit Kraft verfolgen. Diese Bereitschaft zur kontinuierlichen Zusammenarbeit und zum Austausch bringe ich mit. Vom VSAO wünsche ich mir noch etwas Zusätzliches: kritisches Feedback. Wo ist Yvonne Gilli zu wenig präsent? Wo hat sie unsere Anliegen nicht zu unserer Zufriedenheit vertreten? Aus der Distanz und in unseren unterschiedlichen Rollen können wir uns gut ergänzen: Die Präsidentin der FMH muss integrativ auftreten, um alle Mitgliederorganisationen zusammenzuhalten. Der VSAO kann sehr kraftvoll und gewerkschaftlich prononciert auftreten. Auch hier: wir dürfen uns nicht spalten lassen, sondern müssen in diesen Rollen unsere Kräfte bündeln.
Sehen Sie bezüglich der ärztlichen Weiterbildung Veränderungspotential?
Assistenz- und Oberärzt*innen erleben die Stärken und Schwächen unseres Systems in ihrem Alltag. Mit dem SIWF wollen wir hier an Verbesserungen arbeiten. Auch die Forderungen des VSAO teile ich zu einhundert Prozent. Wir brauchen zeitgemässe Bedingungen für die Weiterbildung, die für die Arbeitgeber verbindlich sind. Der Abschluss eines Facharzttitels muss auch in Teilzeit möglich sein. Dabei kann man sich an den Best Practices aus anderen Ländern orientieren – die angelsächsischen Länder zeigen, wie man Ärztinnen und Ärzte gezielt auf einen Facharzttitel vorbereiten kann, ohne dass man Jahrzehnte dafür investieren müsste. Solche Weiterbildungen sind keine “Günstlichstwirtschaft”, wie das zum Teil genannt wird. Für Ärztinnen und Ärzte in der Ausbildung muss es möglich sein zu operieren, wenn sie die Voraussetzungen dafür erfüllen. Auch Kanada hat eindrucksvolle Konzepte – oder Australien, wenn es zum Beispiel um die Palliativmedizin geht. Wir leben in einer eng vernetzten, globalen Welt – da kann die Schweiz von anderen lernen. Noch nie war der Wissenstransfer so schnell und der Zugang so leicht.
Sie waren früher für die Grüne Partei im Nationalrat. Waren Sie schon immer eine politische Person und haben Sie neben der klinischen Arbeit diesen Zusatzweg ganz bewusst verfolgt?
Ja, ich bin seit jeher schon eine politische Person, unter anderem aufgrund meiner Herkunftsfamilie. Mein Vater war illiterat, ein unqualifizierter Hilfsarbeiter. Daher habe ich immer wieder erlebt, was Diskriminierung und soziale Randständigkeit bedeuten. In der Pubertät habe ich beschlossen: “So geht es mir später nicht!” Zuerst wurde ich Pflegefachfrau und war auch dann schon gewerkschaftlich organisiert. Später als Ärztin engagierte ich mich im VSAO, zuletzt parteipolitisch und gesellschaftspolitisch für die grüne Partei im Nationalrat.
Sehen Sie sich selbst als Vorbild? Was möchten Sie Ihren jungen Berufskolleginnen mitgeben?
Ich sehe mich nicht als Vorbild im dem Sinne, dass andere es so machen sollen wie ich. Aber sicherlich als Beweis, was möglich ist. Ich möchte zeigen: Packt eure Chance, es gibt sie! Und ich unterstütze dieses Anpacken, wo immer es möglich ist. Ganz speziell, wenn es um die gläserne Decke in Bezug auf die Karrieremöglichkeiten von Ärztinnen durch strukturelle Probleme geht. Gehen wir diesen Weg gemeinsam und machen vorwärts!
Wie können wir mehr Frauen motivieren, standespolitisch aktiv zu werden?
Motivation entsteht durch Betroffenheit und Bewusstsein. Engagement bedeutet Gestaltungskraft: Ich kann ändern, was mich stört oder worunter ich leide. Es geht also darum, bei den Ärztinnen vor Ort herauszufinden, wovon sie betroffen sind, und ihnen die Chance zu bieten, entsprechende Veränderungen mitzugestalten. Wer diese Möglichkeiten sieht, ist auch bereit, zusätzliche Arbeit auf sich zu nehmen – denn die ist unvermeidlich. Das braucht Kraft und Ressourcen – womit wir wieder bei den Rahmenbedingungen wären...
Was braucht es, um in der Medizin eine gelebte Gleichstellung zu erreichen?
Noch viel! Aber ich will mit etwas Positivem beginnen: Seit ich im Berufsleben bin, hat sich bereits viel verändert. Als ich die erste Stelle auf der Chirurgie antrat, gab es noch nicht einmal eine Umkleidemöglichkeit für Frauen. Jobsharing-Stellen gab es auch noch nicht. Ich habe eine der ersten als Assistenzärztin geschaffen. Direkt nach mir wurde sie sofort wieder abgeschafft. Was ebenfalls wichtig ist: Die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ist jetzt ein gemeinsames Thema von Männern und Frauen. Dadurch wird sich in den nächsten Jahren für Frauen viel verbessern. Auch Männer sind heute nicht mehr bereit, für eine Kaderstelle 80 Wochenstunden im Dienst zu sein. Wir brauchen konstante Anstrengungen, damit wir die errungenen Verbesserungen auch halten können. Wir müssen anhand von Best Practices zeigen, was möglich ist. Und immer wieder den Finger auf Verbesserungspotenziale legen.